Baltikum, Belarus und Ukraine

eine Zeitreise durch flaches Gefilde

Die Fähre nach Lettland ist keine typische Touristenroute. Außer uns sind vier Motorradfahrer und etliche Truckerfahrer an Bord. Gierig verschlingen sie drei mal am Tag ihre vollbeladenen Buffet-Tablets und sitzen russisch-klönenend zusammen, sichtlich zufrieden und ausgelassen, da sie ja die zweitägige Fährfahrt nicht am Steuer sitzen brauchen.

Ich freu mich, ich freu mich so dolle dass schon auf dem Schiff der Hauch des Ostens spürbar, die Tür zu einer anderen Kultur, einer Veränderung, offen steht. Als wir mitten in der Nacht das lettische Festland in Liepaja erreichen, stellen wir wenige Kilometer nördlich des Hafens bei Dunkelheit unser Zelt am Strand auf. Wir ahnen dabei nicht dass wir uns auf der verwilderten, ehemaligen Hauptbasis der russischen Ostseeflotte befinden. Wo einst 30 Atom-UBoote und 140 Kriegsschiffe stationiert waren, brechen die kilometerlange Betonhafenanlage, die von Wellen, Wind und Wetter angefressenen Bunker und Schießanlagen einfach so ins Meer ab. Es ist ein spannender aber auch verwahrloster Ort. Grusel und Furcht überkommt einen bei jedem Schritt tiefer hinein in die riesigen unterirdischen Anlagen. Die feuchte Luft im Inneren riecht nach Pippi und Kadaver. Schnell wieder raus hier!

Die darauf folgenden Kilometer durch Lettland, Lithauen und Polen fressen wir nur so auf. Mit 20 Kmh rauschen wir durch endlos flaches Gefilde vorbei an blumigen Wiesen und satt-grünen Wäldern. Einfache, zierliche Höfe wirken wie kleine Nester eingebettet in sommerlich wuchernden Feldern. Es ist heiß und wir sind sehr dankbar um die Seen der Masuren, weniger allerdings um die Stechmücken die uns am Abend das Leben schwer machen, einem jegliche Freude am campen nehmen können. Scheiß Viecher!!

Die europäischen Spiele in Minsk ermöglichen es uns spontan durch Belarus in Richtung Ukraine zu fahren. Wir ergattern 2 Tickets für den Boxwettkampf und können damit visumfrei einreisen.
Tanja und Andreji bescheren uns einen ganz wunderbaren Start in diesem uns bisher so unbekannten Land. Ich konnte mir unter  Belarus wenig vorstellen und das macht es umso interessanter für uns. Reichlich Borschtsch (eine Art Rotebeete-Suppe) und Blinis (kleine Pfannenkuchen) mit Marmelade werden aufgetischt als wir frisch geduscht bei den Beiden am Tisch sitzen. Mhhh ist das lecker!

In den belarussischen Städten ist es Fahrrädern verboten auf der Straße zu fahren und so holpern wir die Gehsteige hoch und runter als Andreji uns am nächsten Tag mit dem Rad durch ganz Grodno führt. Die Führung scheint kein Ende zu nehmen und das wo wir uns eigentlich auf einen Fahrrad-freien Pausentag gefreut hatten. Andreji weiß uns viel zu zeigen. Ohne dass er es benennt kann man die Verbundenheit zu seiner Stadt, seiner Heimat, erkennen.
Das es aber auch einige Dinge zu geben scheint über die das Paar in diesem autoritär geführten Land nicht glücklich ist, erfahren wir beim Abendessen. Während Tanja am Herd steht und uns einen Kartoffelkuchen (Rösti) nach dem anderen frisch aus der Pfanne auf den Teller serviert erzählt sie…
„Solange du gesund bist ist das Gesundheitssystem umsonst. Wenn du krank bist wirst du vom Arzt als Gesund erklärt und wieder weg geschickt. Wenn du dann zu einen privaten Arzt gehst, diagnostiziert er dir dann lauter Dinge die du gar nicht hast, nur um damit Geld zu verdienen. Darum gehen die Leute lieber Kräuter sammeln und versuchen sich auf diese Weise selbst zu heilen und gesund zu halten.“
Den aus den selbst gesammelten Blättern der Weidenröschen hergestellten Ivan-Chai bekommen auch wir eingegossen. Er soll gut sein für’s Immunsystem. Gegen den Frust und Unzufriedenheit im Land, gegen die gewisse Hilflosigkeit, meint Andreji, hilft Fahrrad fahren. Da fühlt er sich frei und unabhängig. Er möchte kein Auto besitzen, er möchte lieber mal eine große Fahrradreise mit seiner Frau durch Europa machen.
Unser Weg führt uns weiter mit dem Zug nach Minsk. Riesige Wohnblocks und Plattenbauten zeichnen neben diversen sowjetischen Macht-und Prachtbauten das Bild der Metropole.
Um ehrlich zu sein freunde ich mich mit dem Plattenbau immer mehr an. Wir sehen so viel buntes, geselliges und individuell Gestaltetes. Eigentlich braucht der Mensch doch nicht mehr Platz zum Leben. Wenn dafür mehr gemeinschaftliche Grünfläche und Platz für Gemüsegärten drum herum bestehen, dann finde ich das eigentlich gar kein so schlechtes Konzept!

 

Nach drei Tagen Aufenthalt verlassen wir die Stadt noch vor dem Beginn der Europäischen Spiele und wir verschenken unsere Eintrittskarten fürs Boxen. Entlang des Flusses schlängeln wir uns aus der riesigen Stadt heraus und kommen dabei zufällig vorbei an einem Denkmal dass uns erschüttert. Hier, am äußeren Rande von Minsk, verloren 60 Tausend Juden in einem der größten Sammellager, viele Kilometer weit weg von Deutschland, während der Hitler-Diktatur ihr Leben. Auch Minsk selbst ist von den Nazis damals zu großen Teilen zerstört worden. Irgendwie war mir nicht bewusst welch Ausmaß der Krieg bis hier in den tiefen Osten Europas hatte.

Einmal, in einem Ort weit entfernt von jeglicher Großstadt, standen Sascha und seine Mutter wild fuchtelnd mit einem Sack Kartoffeln für uns am Straßenrand. Der Garten wirft so viel Ernte ab und bedauerlicherweise ist der Vater im letzten Jahr verstorben. Zuvor war der Gemüsegarten doppelt so groß, so erzählen sie uns und reichen uns eine Schale knackig roter Erdbeeren die wir im Schatten des wilden Weines verzehren. Eines scheint den Beiden ganz dolle auf dem Herzen zu liegen. Was Sascha auf russisch in unseren Googletranslater spricht spuckt eine Computerstimme uns auf Deutsch aus : „Was unsere jeweiligen Großväter getan haben war nicht richtig. Wir die wir hier zusammen sitzen schließen Frieden und Freundschaft!“
Andächtig und mit ganzem Herzen nehmen die Beiden uns feste in die Arme. Gerührt und wieder mal beschenkt mit allerlei Erntegaben ziehen wir schließlich weiter gen Süden. In Richtung der Ukraine.
Dass man hier weniger Veränderungen ausgesetzt ist, sich die Dinge viel langsamer entwickeln – vielleicht ist das der Grund warum man sich den Geschichtlichen Ereignissen und der kulturellen Herkunft noch viel Bewusster ist.

 

Wenn wir an Pferdegespannen vorbei radeln, wir das Wasser aus dem Brunnen kurbeln und die Frauen mit Kopftuch und Kittelschürze strickend oder Wolle spinnend auf der Bank vor dem Haus sitzen, wenn es zum Essen einfach das gibt was der eigene Hof oder Garten hergibt, lebhaft bewohnte Storchennester die Dächer und Strompfosten schmücken und die Menschen auf dem Feld das Gras schwungvoll mit der Sense schneiden, dann fühle ich mich oft zurückversetzt in vergangene Zeiten.

Leider allerdings bedeutet Vergangenheit nicht nur Gutes. Viel mehr als erwartet bedrückt es mich als wir entlang der Sperrzone Tschernobyls radeln.
Hier und da warnen Schilder davor die Straße zu verlassen da die Strahlung dort zu hoch sei. Verlassene Ortschaften erzählen wie Menschen vor vielen Jahren evakuiert und nie wieder in ihre Heimat zurückkehren konnten. Die Natur floriert, wächst wie wild und trügt mit ihrer scheinbaren Idylle.

Andre und Alessia betreiben in Iwankiw eine Hiphop- Tanzschule. Während unseres zweitägigen Aufenthalts erzählen sie uns wie es war als ihre Familien aufgrund der Katastrophe für zehn Jahre  in den Süden der Ukraine ans schwarze Meer gezogen sind um die Kinder nicht dieser Strahlung auszusetzten.
Für teure 100 Dollar ist es mittlerweile möglich, an einer geführten Tour in das Sperrgebiet hinein, teilzunehmen. Viele Touristen tun das. Doch leider, so erklärt es uns Andre, fließt das Geld in die Taschen der korrupten Organisatoren und Grenzpolizisten. Dabei wäre es so viel sinnvoller wenn dieser Ertrag beispielsweise der medizinischen Versorgung  Betroffener zu Gute käme.

Es ist heiß als wir weiter fahren. Die Sonne knallt mit aller Macht, lässt uns kaum Frischluft zum atmen und in den Wäldern wimmelt es an Stechmücken so dass auch sie uns keine schattige Zuflucht bieten. Wir sind einfach froh als wir in Kiew ankommen, in der Stadt mit den golden Kuppeln.
‚Days of Youth‘, so lautet das Motto der vielen Veranstalungen die dieser Tage an der Chreschtschatyk- Boulevard, einer 1.2 km langen Straße die wochenends für Autos gesperrt ist, stattfinden. Am prachtvollen Majdan, dem Unabhängigigkeitsplatz und Austragungsort verschiedene Revolutionen in jüngster Vergangenheit, pulsiert das Leben genauso wie in den zahlreichen Parks und am Ufer des Flusses Dnerp, wo die Menschen sich unter Livemusikbeschallung am frischlichen Wasserbad erfreuen. Ja wir sind angenehm überrascht von Kiew, genießen die Zeit und die Vielfalt hier und lernen wirklich besondere, neugierige junge Menschen kennen!!

Nach ein paar Tagen verlassen wir Kiew und das Flachland. Dankbar um die Zeitreise, um die engagierten, rührenden Menschen die wir kennen gelernt haben und um die unendlich vielen eindrücklichen Erlebnisse brechen wir voller Bergsehnsucht auf in die Karpaten!

Seid lieb gegrüßt mit einer ordentlichen Portion frisch-sommerlicher Bergluft,
Maren

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