Mexiko - Zentrales Hochland
Jeder Ort eine Geschichte.
Nachdem wir in Mazatlán das Festland Mexikos erreicht hatten, verabschiedeten wir uns vorerst vom Meer. Viele Wochen war uns der Blick übers Wasser gegönnt, nun war es Zeit für ein neues Kapitel.
In Mazatlán entschieden wir uns dazu, ein Stück mit dem Bus zu fahren. Eine Strecke die zwar landschaftlich schön sein sollte, über die wir jedoch auch wussten, dass es dort zu Auseinandersetzungen zwischen Kartellen kommt. Daran waren wir so gar nicht interessiert und so freuten wir uns über die geschenkten Höhenmeter und stiegen knappe 4 Stunden später in Durango, wieder aus.
Während wir uns am darauffolgenden Tag mühevoll aus der Stadt heraus schlängelten, rauschten die Autos auf der vierspurigen Straße an uns vorbei, Müll machte sich in den Straßengräben breit und die Sonne schien einfach zu hell auf uns herab. Als wir endlich auf eine kleine Landstraße abbogen, ging es gleich viel besser. Und als wir das erste Dorf erreichten, löste sich mein Frust gänzlich in Luft auf. Bei der ersten Tienda hielten wir an. Musik tönte aus einem Lautsprecher und draußen saßen einige Dorfbewohner zusammen, tranken Bier, ja sogar tanzten. Ein Obstverkäufer schenkte uns Früchte, wir bekamen etwas zu trinken in die Hand gedrückt und Tomte geriet ganz unkompliziert in Kontakt mit den anderen Kindern. In den darauffolgenden Tagen und Wochen war die Landschaft meist wenig spektakulär: Hügeliges Land in strohigen Farben. Kakteen, Mesquite und einige Yucca Bäume heben sich von den Feldern ab und hier und da sehen wir Algarven-Plantagen zur Herstellung von Tequila. Wirklich prachtvolle, alte Städte, deren Geschichte auf die Kolonialisierung der Spanier und den Abbau von Silber zurückgeht reihen sich im zentralen Hochland wie eine Perlenkette aneinander und lassen uns begeistert durch die Straßen schlendern. Ein echtes Highlight! Was das Erlebnis hier in Mexikos nördlichem Zentral-Hochland (mesa central) aber so besonders machte sind die vielen Pueblos, die, wenn immer wir uns an deren Plazas niederließen, uns mit ihrer Gastfreundschaft überwältigten. In jedem Ort erlebten wir kleine Geschichten von Herzlichkeit und Großzügigkeit.
Oft bot man uns Essen und einen Platz zum Schlafen an. So übernachteten wir in Kirchen und Innenhöfen, im Gemeindesaal und einmal sogar in der Gäste-Zelle der Polizei. Abends schloss man uns ein und am Morgen um acht wurden wir wieder freigelassen. In San José de Gracia hielt die Stadtverwaltung gleich einen Programmpunkt nach dem Anderen für uns bereit: Erst lud man uns zu einer Bootstour ein. Danach folgte ein Abendessen bei Felipes Restaurant. Am nächsten Morgen beeilten wir uns die Einladung zum Frühstück mit der stellvertretenden Bürgermeisterin wahrzunehmen und anschließend den lokalen Radiosender zu treffen. Erst auf dem Fahrrad hatten wir Zeit, all die Erlebnisse zu verdauen. Ich könnte noch lange weiter aufzählen, wieviel Gastfreundlichkeit und Offenheit uns entgegen gebracht wurde.
In den Bergen zwischen Zacatecas und Aguascalientes rollten wir über steinige Wege durch die scheinbare Abgeschiedenheit eines Plateaus. Nur ein paar Pferde und Kühe leisteten uns hier Gesellschaft. So dachten wir zumindest. Als Tomte wach wurde, hielten wir an und aßen zu Mittag. Wir staunten nicht schlecht, als sich plötzlich 5 auffällig noble Geländewagen langsam auf uns zu bewegten. Etwa 15 schwer bewaffnete Männer stiegen aus. Eine Hand voll kamen auf uns zu, begrüßten uns höflichst während die Anderen sich mit ihren Waffen in einem Umkreis von zwanzig Metern verteilten. Man bot uns Energydrinks an, Kekse und Süßigkeiten. Die Männer fragte uns, woher wir kommen und ob wir Wasser oder Lebensmittel bräuchten. Wir spielten das Spiel mit, gaben uns sehr erfreut und nahmen alle Geschenke höflich an, außer das Marihuana. Dann reichten sie uns die Hand, verabschiedeten sich überaus freundlich und fuhren weiter, nicht ohne uns mitzuteilen, dass sie “Hier” seien, falls wir Hilfe bräuchten.
Es gab für uns keinen Zweifel, dass wir gerade Mitgliedern eines Kartells begegnet waren.
Verdattert und etwas erleichtert, mit quietsch-süßen, furchtbar schmeckenden Energydrinks in der Hand, atmeten wir erstmal tief durch und setzten dann unsere Reise durch die Sierra fort. Gut, dass die Kartelle für gewöhnlich nicht daran interessiert sind, Schwierigkeiten mit Touristen zu bekommen. Im Gegenteil. Sie wollen kein ausländisches Aufsehen erregen, um ganz in Ruhe ihren kriminellen Geschäften nachgehen zu können. Auch andere Radreisende berichteten uns von Begegnungen mit den Kartellen und auch Ihnen wurde immer die größtmögliche Höflichkeit entgegengebracht.
So richtig wohl fühlten wir uns aber den Rest des Tages aber dennoch nicht mehr. Wir waren froh, als sich am Abend dann die Gelegenheit bot, bei nomadisch lebenden Viehherdern zu campieren. In deren Gesellschaft konnten wir entspannt in unser Zelt schlüpfen, die Erlebnisse verdauen und dabei dem Geheule der Kojoten in der Ferne lauschen.
Mitten in der Sierra de Lobo, am späten Nachmittag, waren wir gerade dabei, am Wegesrand das Loch an Chris Vorderreifen zu flicken, als sich ein Auto mit Lautsprecherdurchsage auf der steinig-steilen Piste uns näherte. Die Schiebetür des zerbeulten MiniVans öffnete sich und sofort wurde uns klar, was wir durch die Lautsprecherdurchsage zwar schon von Weitem gehört, aber trotzdem nicht verstanden haben:
Hier, viele Kilometer vom nächsten Ort entfernt und zum genau richtigen Zeitpunkt öffnet ein Eisverkäufer seine Schatztruhe für uns. Wir hatten die Wahl zwischen Erdbeer, Schokolade oder Vanille. Im Becher oder in der Waffel und wahlweise mit Sahne. Nur Tomte konnte mit dieser erfreulichen Überraschung wenig anfangen. Seine Aufmerksamkeit galt dem Esel, der seinen Kopf neugierig über den Zaun streckte, als wollte er auch mal von unserem Eis probieren. Es war spät geworden als der Platten endlich geflickt und wir weiter den Berg hinauf kurbelten.
Tomte hatte keine Lust mehr und wurde langsam unruhig in seinem Fahrradsitz. Als er an einem Bauernhaus Spielsachen entdeckte, schrie er aus vollster Kraft und Verzweiflung, da wir keine Anstalten machten anzuhalten.
Die Bäuerinnen beobachteten die Situation und wiesen uns an zu warten. Sie schenkten Tomte ein ausrangiertes Prinzessinnen-Bobbycar. Aufgeregt und mit verheulten Augen, machte sich Tomte daran, sein neues Gefährt zu erkunden. Dann wurde es aber wirklich Zeit, die Dämmerung hatte bereits eingesetzt. Doch als wir versuchten, Tomte mitsamt seiner Prinzessin in den Anhänger zu setzen, um weiterfahren zu können, wehrte dieser sich mit Händen und Füßen und weinte bitterlichst. So kam es, dass die beiden Frauen erneut Mitleid mit uns hatten. Neben dem Haus stand ein Mesquite Baum und unter Diesem durften wir unser Zelt für die Nacht aufstellen. Unser Reisealltag ist üblicherweise voller Überraschungen und manchmal auch eine emotionale Achterbahnfahrt. Wir wissen selten wo wir schlafen werden, wem wir begegnen und welche Weichen sich dadurch stellen. Tomte jedenfalls schwelgte den Rest des Abends (und die kommenden Wochen ebenfalls) im Glück. Und Papa Chris hatte fortan 2 Kilo mehr auf seinem Anhänger zu transportieren.
Unwartet aber überraschend positiv fügte sich auch wenige Tage später Abends alles auf den letzten Drücker. Die Häuser schienen ausgestorben, keine Menschenseele war zu sehen. Weit und breit bot sich kein Platz zum zelten an. Wir fuhren so schnell wir konnten, in der Hoffnung vor uns würde sich schon eine Lösung auftun. Jedoch fühlten wir uns im Dämmerlicht zunehmend unsicher auf der Straße. Also bogen wir die nächste Möglichkeit links ab. Dabei sahen wir einige Hundert Meter entfernt ein Auto in eine private Hofeinfahrt fahren. Chris beeilte sich die Person anzutreffen und tatsächlich ergab sich eine Möglichkeit für uns. Im Innenhof gab es genug Platz für unser Zelt und nicht nur das. Das Ehepaar des Hauses hatte zwei kleine Töchter, die im Schein einer Laterne mit Tomte den Abend spielend verbrachten, während wir in Ruhe das Abendessen zubereiteten und mit den Eltern der Mädchen quatschten. Es war ein gänzlich unerwarteter, aber wunderschöner Abend für alle!
Nach vielen Kilometern karger Vegetation in den Bundesstaaten Durango, Zacatecas und Querétaro, umgaben uns im Osten Michoacáns, in den Sierra de Puruagua, endlich wieder Wälder. Als wir in der Pause unter Schatten spendendem Blätterdach Pfannekuchen brutzelten, merkten wir, wie sehr sich unser Körper und Geist nach den Bäumen gesehnt hatte. Die reinste Wohltat! Dass wir auf unserer Reise oft auch Umständen ausgesetzt sind, die uns Mühe machen, hat den schönen Nebeneffekt, dass wir die kleinen, sonst eher selbstverständlichen Dinge umso mehr schätzen können. Da brauchen wir nicht viel um tiefes Glück zu empfinden: Eine kalte Dusche, ein Blätterdach oder einfach jedes Erreichen einer vollendeten Tagesetappe.
In Zitaquaro waren wir kurz davor einen großen Meilestein unserer Reise erreicht zu haben, denn von dort planten wir mit mit dem Bus nach Mexiko-Stadt eine der größten Metropolen weltweit, zu fahren. Jedoch neigte sich der Tag mal wieder dem Ende als wir in Zitaquaro ankamen. Wir beschlossen, den Bus erst am nächsten Tag zu nehmen um lieber bei Helligkeit in Mexiko-Stadt anzukommen. Mal wieder stellte sich also die Frage wo wir übernachten werden. Wir versuchten es beim ‚departamento de bomberos voluntarios‘, der Freiwilligen Feuerwehr mitten in der Stadt. Und es war gar keine Frage, selbstverständlich durften wir unser Zelt auf dem Hofgelände aufstellen. Umgeben von Tieren die die Feuerwehr in Obhut genommen hatte, rein- und rausfahrenden Einsatzfahrzeugen und den pipsenden Funkgeräten der Nachtschicht, verbrachten wir eine erstaunlich geruhsame Nacht.