USA - New Mexico
Manchmal läufts und manchmal nicht. Wir bekommen Schnee und ändern unsere Pläne.
Die Sonne verschwand hinterm Horizont und es umfing uns ein zauberhaftes Licht, wie wir es nur aus der Wüste kennen. Umgeben von Sandgestein, Wacholderbüschen und Kakteen, saßen wir vor unserem Zelt und genossen die magischen Minuten, in denen der Tag ging und die Nacht kam. Wir waren im Norden New Mexikos angekommen. Eine Region, die von Vulkanausbrüchen und der frühen Besiedelung durch amerikanische Ureinwohner erzählt.
Während die Täler von rauer und zugleich faszinierender Wüstenlandschaft geprägt sind, wachsen auf den Bergen Nadelwälder und Wiesen, welche eine reiche Population an Wildtieren beheimaten. So sehr wir die Wüste lieben, waren wir froh, in den darauf folgenden Tagen an Höhe zu gewinnen. Bäume, Wiesen und Bäche boten uns eine willkommene Abwechslung. Wir waren auf dem Weg zum Valles Caldera. Vor uns lagen vier Tage ohne Infrastruktur, dazu viele Höhenmeter auf unbefestigten Straßen. Wir saßen schon im Sattel, während ich im Kopf nochmal die Planung der nächsten Tage durchging. Haben wir in der Hektik alle Einkäufe gemacht und können wir die Strecke schaffen, bevor unsere Vorräte enden?
Es fing schon gut an: Kaum war Tomte weg geschlummert und wir gerade mal 5km gefahren, wurden wir von einer Schranke ausgebremst. Zwar gab es einen Durchgang für Fußgänger, jedoch war dieser zu eng für unsere Räder. Es half nichts. So leise wie möglich luden wir die Sachen ab und hievten Fahrräder, Anhänger und Gepäck nach und nach über die Schranke. Natürlich wachte Tomte dabei auf. Mist. Was machten wir hier eigentlich? Nur wenige Kilometer weiter hatte ich einen Platten. Ich kümmerte mich also um meinen Reifen und Chris machte sich daran, etwas zu Mittag zu kochen. Dabei bekam Tomte unbemerkt die Chilisaucen-Flasche in die Hand, steckte sie sich in den Mund und fing Sekunden später an zu weinen. Das war dann doch zu scharf. Als der Schmerz in seinen Mund nachließ, wollte Tomte nichts lieber als beim Kochen zu helfen. Während ich verzweifelt das verlorene Ventil Hütchen suchte, geriet Chris also zunehmend in Stress, da Tomte immerzu den heißen Topf auf dem wackeligen Campingkocher greifen wollte. Irgendwie wurden wir der Lage Herr und fuhren schließlich weiter. Tomte schlief, sobald sich die Räder in Bewegung setzten, wieder ein. Es kehrte Ruhe ein. Kein Motorengeräusch weit und breit, nur Vogelgezwitscher und unser gleichmäßiger Atem. Herrlich! Wir kamen richtig weit. Viel weiter als gedacht und das tat gut. Der Weg war wahnsinnig steil und zum Teil sehr zerklüftet. Ich staunte über Chris, wie er mit Tomte im Hänger den Berg hinauf kurbelte.
Irgendwann hatten wir die Höhe erreicht und fuhren durch ein weites Hochtal, den Krater des Supervulkans Valles Caldera. Das Gras leuchtete strohig und golden. Was für ein Genuss! Am Abend gabs Nudeln im Zelt. Tomte schob sich genüsslich und äußerst konzentriert eine Fussili nach der Anderen in sein kleines Mündchen. Diese Nacht sollte die kälteste bisher werden. Zur Sicherheit stülpte ich noch meine Daunenjacke über Tomtes Schlafsack. Am Morgen war das Wasser in unseren Flaschen gefroren und das Zelt mit einer dünnen Frostschicht bedeckt. Dick eingepackt kroch Tomte wie gewohnt fröhlich aus dem Zelt und schnappte sich den nächstbesten Gegenstand zum Spielen. Nach nur kurzer Zeit jedoch hatte die Kälte seine Fingerchen durchdrungen und musste weinen. Wahrscheinlich wusste er gar nicht, warum und woher dieses schmerzhafte Gefühl in seinen Händchen kam und schon gar nicht, was man dagegen tun könnte. Um ihm die nötige Wärme zu geben, nahm ich ihn in die Babytrage, ganz eng an meinen Körper und Chris wickelte den Schlafsack um uns herum. Seine eines Händchen hielt ich fest in meiner Hand und das Andere schob ich irgendwo tief unter meinen Pullover. So war es gut und Tomte schlief tatsächlich nochmal kurz ein. Als er seine Äuglein wieder öffnete, guckte er hoch in den Himmel, zog seine Hand aus dem Gemümmel und zeigte erst zu der Mondsichel die noch silbern am Morgenhimmel schimmerte und dann zu dem Vogel der krächzend von einem Baum zum nächsten flog. Ein berührender Moment.
Mittlerweile hatte Papa Chris alles zusammen gepackt. Wir setzten Tomte, in unsere Schlafsäcke gewickelt, in den Anhänger und fuhren so einige Kurven bis wir einen Platz in der Sonne fanden, wo wir erstmal ganz in Ruhe frühstückten und unter den wärmenden Strahlen der Sonne im Tag ankamen.
Es ging uns gut in diesen Tagen, rund um Valles Caldera. Richtig gut.
Zurück auf der Straße ging es viele Kilometer bergab bis Los Alamos. Heimat einer Nationalen Großforschungseinrichtung wo einst im Rahmen des Manhattan Projects Geschichte geschrieben wurde. Die Abfahrt, vorbei an vielen tausend Hektar verbranntem Wald, mutete dystopisch an, auch wenn der große Flächenbrand im Jahre 2011 nichts mit der Entwicklung der Atombombe hier zu Zeiten des Zweiten Weltkrieges zu tun hatte.
Das Labor LANL ist eines der größten Forschungsinstitute weltweit mit mehr als 17.000 Mitarbeitern. Kein Wunder also, dass auch unsere Warmshowers-Gastgeber in Los Alamos, Kent und Becky, vor ihrer Rente Jahrzehnte lang dort angestellt waren. Tomte fühlte sich hier direkt wohl. Das einstöckige Haus war mit einem kuscheligen Teppichboden ausgestattet und die Küche bot überaus spannende Schubladen und Türchen, die Tomte nach und nach entdeckte und so lustvoll ausgeräumte, dass man es nur klirren und scheppern hörte. Zum Glück schien das unsere Gastgeber so gar nicht zu stören. Im Gegenteil. Kent, an ALS erkrankt, freute sich über das kleine Wesen, dass sich ebenso wackelig wie er fortbewegte und dabei dieselbe, unstillbare Neugier und Schaffensfreude an den Tag legte. Kent und Becky sind unglaublich kreativ. In ihrem Haus entstehen die tollsten Recyclingprojekte. Von riesigen Quillt – Decken aus alten Stoffen über Barhocker aus ausrangierten Fahrradgabeln, bis hin zu verschiedene Gehwagen, die Kent auf Grund seiner Erkrankung benötigt und die insbesondere Tomte sehr zu schätzen wusste. Wenn er nicht gerade die Küche ausräumte, schob er fröhlich einen der Gehwagen durch das Haus oder tanzte zu Kent’s Musik, wenn dieser sich mit seiner Gitarre im Sessel niederließ.
Während wir die Tage bei Becky und Kent in Los Alamos verbrachten, kündigte sich ein Wetterwechsel an, der in den kommenden Tagen sogar Schnee versprach. Uns wurde klar, dass eine Weiterreise mit Fahrrad, Zelt und Klein-Tomte durch New Mexico vorerst nicht möglich ist. Wir sehnten uns nach wärmeren Temperaturen. Also buchten wir einen Nachtzug von Albuquerque nach Los Angeles in Kalifornien. Bevor wir den Bundesstaat jedoch verließen, schauten wir noch in Santa Fe vorbei. Die Stadt ist besonders, weil es dort bereits Mitte des 20. Jahrhunderts zur Pflicht wurde, jeden Neubau im traditionellen Pueblo-Baustil, der Adobe-Bauweise, zu errichten. Das Ergebnis ist ein für die USA sehr ungewöhnliches und äußerst hübsches Stadtbild, das, genauso wie die vielen Kunstgalerien, von der Geschichte New Mexicos erzählt.